Am 25. Juli 2018 entschied der Europäische Gerichtshof, dass Lebewesen, die durch neue Züchtungstechniken wie die Genschere CRISPR/Cas entstanden sind, wie bisherige gentechnisch veränderte Organismen behandelt werden sollen und somit unter das EU-Gentechnikrecht fallen. Aktuell setzen Industrievertreter und mehrere EU-Mitgliedsstaaten EU-Entscheidungsträger unter Druck, neue Gentechnikverfahren aus dem EU-Gentechnikrecht auszuschließen. Slow Food kritisiert, dass dies das Vorsorgeprinzip unterschlagen würde und für Verbraucherinnen und Verbraucher würde das das Ende der Freiheit auf eine gentechnikfreie Ernährung bedeuten.
Slow Food nimmt das einjährige Jubiläum des EuGH-Urteils zum Anlass, die EU-Entscheidungsträger aufzufordern, dem Druck von Lobbyisten und EU-Mitgliedsstaaten nicht nachzugeben. Es gilt, an der Einstufung von Organismen, die durch neue Gentechnikverfahren verändert worden sind, als gentechnisch veränderte Organismen (GVO) unter dem EU-Gentechnikrecht festzuhalten, und damit das im EU-Recht verankerte Vorsorgeprinzip zu wahren. Das meint auch Christine von Weizsäcker, deutsche Biologin und Umwelt-Aktivistin, die die aktuelle Debatte um neue Gentechniken mit kritischem Auge betrachtet: „Das Vorsorgeprinzip wurde beim Erdgipfel in Rio völkerrechtlich fest verankert und ermächtigt Staaten, vorsorglich Schäden zu vermeiden und abzuwenden. Es ist die Grundlage von Umwelt- und Verbraucherschutz in der Europäischen Union. Chemiekonzerne und viele Forschungsministerien wollen die neuen Gentechniken am Vorsorgeprinzip vorbeischmuggeln. Die vorsorgliche Gesetzgebung soll ausgehebelt oder zumindest dank des neu erfundenen sogenannten Innovationsprinzips massiv geschwächt werden. Um der Umwelt und der Verbraucher willen: Schützt das Vorsorgeprinzip, das uns schützt“.
„Neben dem Festhalten an der Einstufung neuer Gentechnikverfahren als Gentechnik, muss die EU aber noch einen Schritt weitergehen und dafür sorgen, dass keine gentechnisch veränderten Lebensmittel auf unserem Teller landen. In die EU importiert werden aktuell schon über 60 GV-Pflanzen, die vor allem als Futtermittel verwendet werden und somit durch tierische Produkte indirekt auf unseren Tellern landen. Die Crux daran ist, dass dies auf dem Produkt nicht gekennzeichnet werden muss“, so die Vorsitzende von Slow Food Deutschland, Dr. Ursula Hudson.
In der Anwendung von Gentechnik in der Lebensmittelproduktion sieht Slow Food ganz grundlegende Probleme für die Zukunft der Ernährung und fordert die EU-Entscheidungsträgerinnen und -träger auf, GV-Pflanzen in der EU gänzlich zu verbieten, egal ob diese durch neue oder bisherige Gentechnikverfahren erzeugt wurden, denn: „Für jede gentechnische Manipulation gilt: Ihre Folgen - für die Tiere, die Pflanzen, das Ökosystem und letztlich auch uns Menschen - sind nicht absehbar. Nur drei Unternehmen kontrollieren 60 Prozent des internationalen Saatgutmarktes. Fast alle heutigen Gentechnik-Pflanzen sind giftig für Insekten und/oder resistent gegen Herbizide - wie Glyphosat. Das GV-Saatgut wirkt im Paketverbund mit Pestiziden, welche Erzeugerinnen und Erzeuger gleich mit kaufen müssen. Kontaminationen bei der Freisetzung sind kaum vermeidbar – und die transgenen Pflanzen können sich dann weiter ausbreiten“, kommentiert die Slow-Food-Expertin, Tierärztin, Mediatorin und Leadautorin im Weltagrarbericht Dr. Anita Idel.
„Hinzu kommt, dass gentechnisch veränderte Pflanzen und Tiere patentiert und somit Eigentum des Konzerns sind. Die Gentechnik schafft finanzielle und Produkt-Abhängigkeiten für Erzeugerinnen und Erzeuger und folgt so der Logik agrarindustrieller Produktion: Die eigene Ernte darf nicht als Saatgut verwendet werden und dieses muss jedes Mal neu gekauft werden. So wird Ernährungssouveränität unmöglich gemacht und die Ernährungssicherheit zunehmend gefährdet. Ob Ackerland oder Weide – Notwendigkeit und Chance liegen in der Ökologisierung der Landwirtschaft. Den erforderlichen Rahmen muss eine gemeinwohlorientierte Neuausrichtung der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU bieten”, so Idel weiter.
Einmal in der Umwelt, immer in der Umwelt: Auch Dr. Angelika Hilbeck vom Institut für Integrative Biologie der ETH Zürich und Vorstandsmitglied des Europäischen Netzwerks der Wissenschaftler für soziale und ökologische Verantwortung (ENSSER) schätzt den Wirkungsgrad neuer Gentechniken in Organismen und Umwelt noch höher ein als bei den „alten Gentechniken“ - so werden sie auch hinsichtlich ihres Nutzenpotentials beworben, womit aber auch das Risikopotential steigt - und lässt daher die Forderung nach höheren Standards zur Regulierung und Risikoabschätzung laut werden, als dies aktuell für die alten Gentechnikverfahren der Fall ist: "Die größere Eingriffstiefe und Wirkmächtigkeit von CRISPR & Co gepaart mit unzureichendem Grundlagenwissen von Genfunktionen und deren Interaktionen mit der Umwelt sowie deren Nichtrückholbarkeit, rufen nach grösstmöglicher Vorsorge und einer strikteren Regulierung als bei den herkömmlichen Gentechniken“. Eine strikte Regulierung sei laut Hilbeck vor allem auch notwendig, weil man aktuell viel zu einfach und unkontrolliert an die CRISPR-Zutaten im Internet gelangen könne. |